Interview mit Reimer Kornmann

Interview mit Reimer Kornmann als PDF

Wie kamen Sie selbst zur integrativen Pädagogik?

Auf zwei Wegen – zunächst unabhängig voneinander: durch mein sich entwickelndes fachliches Selbstverständnis und durch bildungspolitisches Engagement.

Entwicklung
meines fachlichen
Selbstverständnisses

Zum Wintersemester 1971/72 übernahm ich die Professur »Psychodiagnostik der Lernbehinderten« an der Pädagogischen Hochschule (PH) Heidelberg. Diese Professur gehörte zur Abteilung »Lernbehindertenpädagogik«, die ein Jahr zuvor, also im Jahre 1970, neu eingerichtet worden war und dem schon fest etablierten »Institut für Hör-, Sprach- und Sehgeschädigtenpädagogik« angegliedert wurde. Etwas später kam dann noch die Abteilung »Bildungsschwachenpädagogik«, wie sie damals hieß, hinzu. Alle Abteilungen des in sich stark ausdifferenzierten Instituts waren mit speziellen Professuren für Pädagogik, Schulpädagogik und Psychologie gut ausgestattet und arbeiteten ziemlich isoliert an ihren jeweiligen sonderpädagogischen Aufgabengebieten und kooperierten wenig miteinander. Eine gesonderte Professur für Psychodiagnostik war nur für die Abteilung »Lernbehindertenpädagogik« vorgesehen, während in den anderen Abteilungen das Fachgebiet Psychodiagnostik von der Psychologie bedient wurde. Diese Sonderstellung des Fachs Diagnostik in der Lernbehindertenpädagogik hatte brisante bildungs- und standespolitische Gründe, die sich in Baden-Württemberg (BW) besonders krass abzeichneten, aber insgesamt für die gesamte Bundesrepublik zutrafen. Dies möchte ich kurz erläutern.

Ausbau des
Sonderschulwesens

Im Zuge der Bildungsreform Ende der 1960er Jahre wurde auch das Sonderschulwesen in der Bundesrepublik Deutschland in rasantem Maße ausgebaut. Insbesondere wurden viele Sonderschulen für Lernbehinderte und geistig Behinderte neu gegründet. Die Gründung von Sonderschulen für geistig Behinderte (damals noch als »Bildungsschwache«, dann als »Praktisch Bildbare« und schließlich als »geistig Behinderte« bezeichnet) resultierte aus der Tatsache, dass den betreffenden jungen Menschen erst seit Mitte der 1960er Jahre ein Recht auf Schulbesuch zugestanden wurde. Hingegen kamen die Neugründungen von Sonderschulen für Lernbehinderte (zuvor offiziell als »Hilfsschulen« bezeichnet) dadurch zustande, dass immer mehr Kinder und Jugendliche an den gestiegenen Leistungsanforderungen der Grund- und Hauptschule scheiterten. Das Schulsystem war angesichts der sich damals abzeichnenden »Bildungskatastrophe« auf Effizienzsteigerung ausgerichtet und sollte daher von solchen Schülerinnen und Schülern entlastet werden, die einen erfolgreichen Unterricht erschwerten. Die offizielle Begründung für diese Selektionsmaßnahmen lautete allerdings, dass die betreffenden Kinder nur in den Sonderschulen eine ihren Fähigkeiten angemessene Förderung erhalten würden. Nicht zuletzt auf Betreiben standespolitischer Kräfte erfolgte damals ein erheblicher personeller Ausbau des Sonderschulwesens, wobei die Sonderschule für Lernbehinderte den weitaus größten Teil der neu eingerichteten Stellen erhielt. Nach Möglichkeit sollten die dort eingesetzten Lehrkräfte auch sonderpädagogisch qualifiziert sein. So entstand in BW (wie auch in allen anderen Bundesländern) ein enormer personeller Bedarf an speziell ausgebildeten Sonderschullehrkräften.

Ausbildung der SonderschullehrerInnen

Ihre Ausbildung erfolgte damals ausschließlich im Rahmen eines viersemestrigen Aufbaustudienganges, zu dem nur Lehrkräfte mit bereits abgelegter Erster oder Zweiter Dienstprüfung für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen zugelassen wurden. Sie mussten zuvor schon für längere Zeit – quasi probeweise – an Sonderschulen unterrichtet haben. Ihre Abordnung zum Studium der Sonderpädagogik an die Pädagogischen Hochschulen Reutlingen und Heidelberg (in anderen Bundesländern an entsprechende Universitätsinstitute) erfolgte bei vollem Gehalt (A 12). Nach Abschluss dieses Studiums wurden sie mit höherem Gehalt (A 13) wieder in den Schuldienst an Sonderschulen versetzt, wo sie oft nach kurzer Zeit Leitungsaufgaben bei erneuter Höherstufung übernehmen konnten. Diese Voraussetzungen erleichterten es manchen Studierenden sicherlich, sich mit den institutionellen und ideologischen Gegebenheiten des Sonderschulwesens rückhaltlos zu identifizieren.

Selektionsdiagnostik als besondere Aufgabe der SonderschullehrerInnen

Ein besonderes Qualifikationsmerkmal der sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrkräfte in der Fachrichtung Lernbehindertenpädagogik bestand nun darin, dass sie – im Unterschied zu den zahlreichen Kolleginnen und Kollegen, die ohne sonderpädagogische Zusatzausbildung an den Sonderschulen arbeiteten – »testen durften«, das heißt, sie wurden mit der Aufgabe betraut, im Rahmen des jährlich stattfindenden, formal genau geregelten Sonderschulaufnahmeverfahrens Kinder, die von Grund- oder Hauptschulen als vermutlich »sonderschulbedürftig« gemeldet wurden, auf das Vorliegen einer »Sonderschulbedürftigkeit« zu untersuchen – und zwar mit »wissenschaftlichen Methoden« (sprich Intelligenz- und Schulleistungstests).

Übernahme der Professur »Psychodiagnostik der Lernbehinderten«

Für diese selektionsdiagnostische Aufgabe mussten nun die auch in Heidelberg studierenden Lehrkräfte qualifiziert werden, und deswegen wurde dort die Professur »Psychodiagnostik der Lernbehinderten« geschaffen und mit mir besetzt. In formaler Hinsicht war ich dafür offensichtlich qualifiziert – ich war promovierter Psychologe und konnte eine Ausbildung zum Volks- und Mittelschullehrer (an der Universität Hamburg) vorweisen. In BW war nämlich eine abgeschlossene Ausbildung für ein Lehramt eine nahezu unabdingbare Voraussetzung, um an eine PH berufen zu werden. Hinzu kam, dass ich während meiner Zeit als Doktorand an der Universität Gießen (1967 bis 1969) einen Lehrauftrag zur »Psychodiagnostik des Sonderschulkindes« am gerade neu gegründeten Institut für Heil- und Sonderschulpädagogik der Universität Marburg erhalten und wahrgenommen hatte. Zu dieser Thematik hatte ich zusammen mit meinem Kollegen Klaus
W. Zimmermann einige kleinere methodisch ausgerichtete Artikel, die dann in einer Schrift Der HAWIK bei lernbehinderten Sonderschülern zusammengefasst und mit einem kritischen Artikel eines Gießener Studenten, Alfred Lorenz, ergänzt wurden (Zimmermann et. al., 1971). Inhaltlich konnte ich eine relativ umfassende und solide Qualifikation im Bereich der Psychodiagnostik vorweisen, die ich durch mein Psychologiestudium und durch vertiefende praktische Erfahrungen bei einjähriger Tätigkeit als Psychologe an der heilpädagogischen Abteilung einer Kinderklinik gewonnen hatte. Hinzu kam, dass meine Dissertation klassifikationsdiagnostische Fragen bei »nicht schulreifen« Kindern betraf. Mit den von mir entwickelten Methoden schien es aussichtsreich zu sein, innerhalb der Gruppe von Kindern, die wegen »fehlender Schulreife« für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt werden, die späteren »Lernbehinderten« zu identifizieren (Stichwort »Früherfassung«) und grobe Ursachenkategorien der fehlenden Schulreife (»Hirnschädigung« versus »Milieuschädigung«) aufzudecken. Die zu dieser Thematik publizierten Arbeiten (zwei kleine Artikel neben der Dissertation als Buch), ein Überblicksartikel über Methoden der sonderpädagogischen Diagnostik sowie die schon erwähnten Arbeiten zum HAWIK, reichten damals für die Berufung auf eine Professur voll aus – und dies nur ein gutes Jahr nach erfolgter Promotion und ohne Habilitation! Heute ist das wohl unvorstellbar.

Bildungspolitische Erwartungen

Ein Teil meiner Qualifikationen – zu denen gewiss auch meine bildungspolitische Naivität sowie mein technologischer Optimismus zählten – entsprach sicherlich den bildungspolitischen Erwartungen, die zu der Berufung auf diese Professur geführt haben mögen.

Rechtssicherheit von selektionsdiagnostischen Gutachten

Im Bereich der Lehre sollten die Studierenden für die schon beschriebene, quasi hoheitliche Aufgabe der Diagnostik im »Sonderschulüberweisungsverfahren« qualifiziert werden. Die Ergebnisse der Diagnostik sollten in ein Gutachten münden, in dem für jedes untersuchte Kind eindeutig festzustellen war, ob eine »Sonderschulbedürftigkeit« im Sinne einer »Lernbehinderung« vorlag oder nicht. Die entsprechenden Gutachten gingen an die Schulaufsichtsbehörde, die für oder gegen die Umschulung zu entscheiden hatte. Bei den Gutachten kam es aus der Sicht der Schulaufsichtsbehörde darauf an, die diagnostischen Urteile so abzusichern, dass die getroffenen Entscheidungen im Falle möglicher Anfechtungen seitens der Eltern vor den Verwaltungsgerichten Bestand hatten. Grundlage solcher Urteile waren vor allem die Ergebnisse eines Intelligenztests und von Prüfungen der Schulleistungen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen. Diese Ergebnisse mit den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen sollten dann in einem kurzen Gutachten »klar und eindeutig« festgehalten werden. Und für genau diese Aufgabe sollten die angehenden Sonderschullehrkräfte durch mich und durch die von mir bestellten Lehrbeauftragten qualifiziert werden. Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man sich unter »Integration« oder »Inklusion« vorstellen kann. So viel zunächst zum Bereich der Lehraufgaben.

Weiterentwicklung der diagnostischen Instrumente

Passend dazu wurde von mir im Bereich der Forschung die Weiterentwicklung diagnostischer Routineverfahren (vor allem praktikabler Tests) erwartet, die die administrativ erforderliche zweifelsfreie Identifikation der »lernbehinderten SonderschülerInnen« in möglichst ökonomischer Weise erlauben sollten. Allerdings war es mir durchaus auch möglich, anderen Fragestellungen in der Forschung nachzugehen.

Sinneswandel
durch praktische Erfahrungen

Bei der Übernahme der Professur glaubte ich zunächst noch an den Sinn klassifikationsdiagnostischer Maßnahmen bei schulischen Lernproblemen und meinte, dass sich technische Lösungen für die selektionsdiagnostischen Aufgaben finden ließen. Im Nachhinein staune ich über meinen naiven Optimismus. Doch mit diesem war es recht bald vorbei, gewann ich doch schnell Erfahrungen, die mich von dem eingeschlagenen Weg abbrachten und den langen Weg zur Integration bahnten.

Schulpraktische Begleitung von Studierenden

Worin bestanden nun diese Erfahrungen? Neben meinen Lehrtätigkeiten im Fach »Diagnostik bei Lernbehinderten« hatte ich mich an der schulpraktischen Ausbildung der Studierenden in der Fachrichtung Lernbehindertenpädagogik zu beteiligen. Dabei wurde jedem Dozenten eine kleine Gruppe Studierender zugeteilt. Diese Studierenden und ihre Dozenten hospitierten einmal wöchentlich einen Schulvormittag lang über das gesamte Semester hinweg in einer Sonderschule, um unterrichtspraktische Erfahrungen zu sammeln. Die schulpraktische Betreuung war eine obligatorische Aufgabe für alle HochschullehrerInnen an Pädagogischen Hochschulen in BW!

Einblick in Sonderschulen für Lernbehinderte

Hierbei konnte ich recht authentische Einblicke in die praktische Arbeit der Sonderschulen für Lernbehinderte und die dabei erzielten Ergebnisse gewinnen, und ich konnte mich auch intensiv mit Merkmalen und Bedingungen von Lernschwierigkeiten einzelner Kinder und Jugendlicher auseinandersetzen. Bei diesen Erfahrungen fand ich die Ergebnisse der ersten wissenschaftlich anspruchsvollen deutschsprachigen Untersuchungen zum Schulversagen voll bestätigt – dies waren die Habilitationsschriften von Elfriede Höhn Der schlechte Schüler und von Lilly Kemmler Erfolg und Versagen in der Grundschule – beide aus dem Jahr 1967. Zugleich wurde ich für die Relevanz der Arbeiten von Siegfried Gehrecke (1958, 1971) und Ernst Begemann (ab 1968) über die soziokulturellen Bedingungen von Lernbehinderungen sensibilisiert. Dadurch erkannte ich recht bald, dass individuelle Merkmale der Schülerinnen und Schüler, wie sie mit den Tests erfasst werden sollen, nur vordergründig den mangelnden schulischen Lernerfolg erklären.

Merkmale des Umfelds, das Lernbeeinträchtigungen bedingt

Als wirklich entscheidende Bedingungen wurden mir vielmehr die Qualität des Unterrichts und der familiären Erziehung bzw. die soziokulturell geprägten Erfahrungen bewusst – und genau an diesen Bedingungen hätten, so die weitere Schlussfolgerung, die pädagogischen Bemühungen bereits in der Grundschule ansetzen müssen, um die betroffenen Kinder in ihrer schulischen Entwicklung zu unterstützen. Doch gerade diese Schlussfolgerung, wurde aber – so erkannte ich zunehmend – durch die Überweisung auf die Sonderschule verhindert.

Unzureichende Testverfahren

Die Ergebnisse der Tests reduzierten lediglich das komplexe Bedingungsfeld des Schulversagens und lieferten keine Hinweise, wie die Bedingungen schulischen Lernerfolgs günstig beeinflusst werden konnten. Schlussfolgerungen, die sich auf die Qualität der pädagogischen Arbeit in der Grund- und Hauptschule hätten beziehen müssen, unterblieben.

Zweifel an der Effektivität der Sonderschule

Auch lagen schon damals erste Forschungsergebnisse vor, die daran zweifeln ließen, dass eine Beschulung in Sonderschulen den schulischen Lernerfolg begünstigt (Ferdinand & Uhr, 1968). Solche Forschungsergebnisse konnte ich gut mit meinen Beobachtungen in der Schulpraxis in Einklang bringen. Mir fielen nämlich ganz enorme Qualitätsunterschiede der Unterrichtsgestaltung auf: Neben ganz hervorragendem Unterricht erlebte ich auch beschämend schwachen. Schon diese Eindrücke ließen mich, auch gestützt auf die mir bekannten Veröffentlichungen, am pädagogischen Sinn der schulischen Separation zweifeln: Wären die von mir als besonders unterstützend wahrgenommenen Lehrkräfte an Grund- und Hauptschulen tätig, dann – so vermutete ich – wären die von ihnen unterrichteten Kinder wohl kaum als »sonderschulbedürftig« aufgefallen; und umgekehrt schien es mir evident zu sein, dass »Sonderschulbedürftigkeit« eine Folge unzureichender Unterrichtsqualität in der Regelschule sei.

Versuche der
Weiterentwicklung der Statusdiagnostik

Zunächst hatten meine wissenschaftlichen Anstrengungen noch in Versuchen bestanden, die Daten psychometrischer Tests so aufzubereiten, dass sich eine möglichst überschneidungsfreie Trennung zwischen »lernbehinderten« und »nicht lernbehinderten« Kindern und Jugendlichen erreichen ließ. Diese Versuche wurden aber aus den schon angedeuteten Gründen immer fragwürdiger für mich, und daher gab ich sie recht bald auf.

Sonderschulüberweisung prinzipiell nie falsch?

Entsprechende Anstöße für diese Umorientierung in Forschung und Lehre lieferten mir insbesondere die Arbeiten meines Heidelberger Kollegen Hans-Peter Langfeldt (1975) und meines Marburger Kollegen Holger Probst (1973), deren Ergebnisse mir schon vor der Veröffentlichung, also ab 1972, bekannt waren und die ich später (1977) in einem Artikel für die damals populäre, auflagenstarke Zeitschrift betrifft: erziehung (b:e) unter dem Titel »Sonderschulüberweisung prinzipiell nie falsch?« zusammenfassend dargestellt habe. Langfeldt zeigte aufgrund logischer Analysen, dass die Entscheidung im Sonderschulüberweisungsverfahren dem Muster der Hexenprobe folgte: Wie immer man entscheiden mag: Die »Richtigkeit« der Entscheidung zugunsten der Aufnahme in die Sonderschule lässt sich aus der Logik der Institution nicht widerlegen. Es gibt drei verschiedene Ausgänge des Verfahrens: (1) Versagt das Kind auch in der Schule für Lernbehinderte, dann war die Entscheidung, es aus der Grundschule zu nehmen, richtig. (2) Wenn das Kind in der Schule für Lernbehinderte so gerade gut reüssiert, war die getroffene Entscheidung selbstverständlich richtig, und (3) sie kann ebenfalls als richtig gelten, wenn dann das Kind in der Lernbehindertenschule endlich erfolgreich lernt und sich gut macht. Konsequenz für den Entscheidungsprozess: immer nur »unbesehen« rein in die Sonderschule!

Diagnostik über sozioökonomischen Status

Probst wies nach, dass man im Sonderschulüberweisungsverfahren anstelle der Ergebnisse von Intelligenztests auch schnell, einfach und objektiv erhebbare Daten über die sozioökonomischen Lebensbedingungen heranziehen könne, um damit die Population der »Lernbehinderten« zu kennzeichnen. Diese Skepsis gegenüber selektionsdiagnostischen Entscheidungen auf der Grundlage von Tests hatte ich schon 1972 entwickelt, als ich in einer Reanalyse der Daten aus einer großen längsschnittig angelegten Untersuchung zur Validität von Schulreifetests von Krapp & Mandl (1971) zeigen konnte, dass der Einsatz von Schulreifetests eine größere Zahl von Fehlentscheidungen nach sich zieht als der Verzicht auf diese Verfahren bei gleichzeitig »unbesehener« Einschulung aller schulpflichtig gewordenen Kinder (Kornmann, 1972).

Suche nach
Alternativen zur Selektionsdiagnostik

Bei meiner nun einsetzenden inhaltlichen Umorientierung suchte ich nach pädagogisch vertretbaren Alternativen zur Selektionsdiagnostik. Dabei konnte ich auf meine theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen mit der Technik der Verhaltensmodifikation bei kindlichen Entwicklungsstörungen zurückgreifen. Diese hatte ich während meiner Tätigkeit als Psychologe in einer Kinderklinik gewinnen können. Wichtige Anregungen, die diese Erfahrungen ergänzten, erhielt ich durch die Veröffentlichung meines Reutlinger Kollegen Udo Schoor (1972: Zur Strukturierung der psychodiagnostischen Arbeit des Sonderschullehrers) und durch Diskussionen mit meinen Heidelberger Kollegen Otto Böhm (1925–2005), Wolf Rüdiger Wilms, Karl-Ludwig Holtz, Gerhard Eberle, Edmund H. Funke (1940–2014), Hans-Peter Langfeldt und Günther Reiß. Ihre Anregungen betrafen im Wesentlichen lehrtechnologische und methodische Verbesserungen des Unterrichts (vorwiegend im Erfahrungsfeld der Sonderschule für Lernbehinderte). Dabei festigten sich zwei für mich sehr wichtige Erkenntnisse:

a) erfolgreichen pädagogischen Konzepten ist diagnostisches Handeln immanent,

b) die Fragestellungen der auf verbesserten Lernerfolg ausgerichteten Diagnostik beziehen sich nicht primär auf individuelle Merkmale, sondern auf außerindividuelle Bedingungen des Lernens und der Entwicklung, insbesondere auf Qualitätsmerkmale des Unterrichts.

Qualitätsmerkmale des Unterrichts

Auf diese Qualitätsmerkmale des Unterrichts bin ich bei meinen schon erwähnten Hospitationen im Rahmen der schulpraktischen Ausbildung aufmerksam geworden. Ich sammelte und verbreitete bereits in der ersten Hälfte der 70er Jahre entsprechende Episoden, die zeigen sollten, wie man als Lehrkraft diagnostizieren, also Informationen über Schülerinnen und Schüler so gewinnen und verwenden kann, dass auch und gerade Kinder mit speziellen Schwierigkeiten nicht negativ auffallen oder sogar verbessere Lernfortschritte machen können.

Kritik am medizinischen Modell

Erkenntnistheoretisch hat Peter Barkey (1975) meines Wissens erstmals im deutschsprachigen Raum den Blick für diese veränderten Möglichkeiten pädagogischen Diagnostizierens geöffnet, indem er auf die Begrenzungen pädagogischen Denkens und Handelns hinwies, die aus den Orientierungen am Medizinischen Modell bzw. dem Individualtheoretischen Paradigma resultierten. Dafür musste er übrigens im Anschluss an einen 1973 gehaltenen Vortrag stark verletzende Worte von Ulrich Bleidick einstecken. Bleidick schien offensichtlich zu ahnen, welche Gefahr dem Sonderschulwesen mit diesem Paradigmenwechsel drohte. So begründen ja die Repräsentanten der Sonderschule für Lernbehinderte die Existenzberechtigung dieser Schulform damit, dass das Scheitern der Kinder an den Anforderungen der Regelschule auf valide diagnostizierbare und weitgehend unbeeinflussbare Personenmerkmale (insbesondere Intelligenzschwäche) zurückzuführen sei. Mit diesem Kriterium steht oder fällt die Begründung für die Notwendigkeit der besonderen Schulform.

Diagnostik von pädagogisch beeinflussbaren Merkmalen und Bedingungen

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis hieraus bestand für mich in einer inhaltlichen Umorientierung der Diagnostik: Klassifikationsentscheidungen standen nun nicht mehr im Vordergrund. Stattdessen ging es darum, pädagogisch beeinflussbare Merkmale und Bedingungen im schulischen und außerschulischen Umfeld der Lernenden zu finden und hieraus die Ziele und Methoden pädagogischer Förderung abzuleiten. Bestätigende Impulse für diese Umorientierung erhielt ich durch verschiedene Beiträge zu dem von mir im Jahre 1974 durchgeführten Heidelberger Symposion »Diagnostik bei Lernbehinderten« (Kornmann, 1975). Die entsprechenden Wegemarkierungen habe ich rückblickend in dem Aufsatz »Von der Auslesediagnostik zur Förderungsdiagnostik – Entwicklungen, Konzepte, Probleme« beschrieben (Kornmann, 1982).

Gleichzeitige Veränderung von Forschung und Lehre

Forschung und Lehre zur Thematik der Förderungsdiagnostik gingen bald Hand in Hand: Die Studierenden vertieften ihre während des Studiums erworbenen diagnostischen Qualifikationen im Rahmen förderungsbezogener Fallstudien, die sie als Prüfungsleistung vorlegten. Einige besonders gut gelungene Arbeiten wurden bereits ab 1978 veröffentlicht. Bei diesen Arbeiten wurde versucht, grundlegende pädagogische Prinzipien zu erkennen und zu beachten, um Ansatzpunkte zur Unterstützung individueller Entwicklungen zu finden.

Vermeidung von Aussonderung, Diskriminierung, Beschämung

Implizit ging es dabei immer um Vermeidung von Aussonderung, Diskriminierung, Beschämung. Diese Zielvorstellungen stimmten zwar durchaus schon mit den Vorstellungen einer inklusiven Unterrichtskultur überein, ließen sich aber fast nur im organisatorischen Rahmen von Sonderschulen realisieren.

Unterrichtsbeobachtung und -gestaltung

Schwerpunkte in der Lehre bildeten nun Fragestellungen und Methoden der Unterrichtsbeobachtung (Fokus: Möglichkeiten einer lernförderlichen Unterrichtsgestaltung gerade auch für Kinder mit besonders gravierenden schulischen Problemen) und sie betrafen auch die Analyse außerschulischer Lern- und Lebensbedingungen im Hinblick auf Ansatzpunkte zur Lern- und Entwicklungsförderung. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt war die kritische Einschätzung der Psychometrie, also vor allem der messenden Testdiagnostik.

Verzicht auf
Intelligenztests

Dies führte in der Lehre zu einem Verzicht auf die traditionelle Einübung testadministrativer Techniken zur Durchführung von Intelligenztests (HAWIK und BINET). Diese Maßnahme sorgte in BW für erhebliche Aufregungen bei den RepräsentantInnen des Sonderschulwesens. Sie sahen darin die bereits erwähnte Bedrohung der Existenz der Sonderschule für Lernbehinderte.

Konflikte
mit dem VdS

Es kam zu heftigen Konflikten, die insbesondere von dem Verband Deutscher Sonderschulen und dem Kultusministerium in BW geschürt wurden. Zu dieser äußerst heftigen Kontroverse gibt es eine gut belegte Dokumentation, die mein Kollege Gerhard Eberle zurzeit fachgeschichtlich aufarbeitet. Sehr wichtig war hierbei für mich, dass ich starken Rückhalt bei meinen schon genannten Heidelberger Kollegen fand, zum Beispiel verwendeten wir aufgrund der angedeuteten Argumente nur noch die Bezeichnung »sogenannte Lernbehinderte«, was bei den VertreterInnen des Sonderschulwesens – nicht allein in BW – zu heftigen Reaktionen führte. Fachliche Unterstützung unserer kritischen Haltung gegenüber etikettierenden Diagnosen fanden wir aber auch bei unseren Reutlinger KollegInnen, die an der Ausbildung im Bereich der Diagnostik bei Lernbehinderten beteiligt waren, nämlich bei Hansjörg Kautter, Walther Munz, Udo Schoor und Lottelore Storz.

Beschreibung von Bedingungen pädagogischer Prozesse

Im Bereich der Forschung setzte ich die Schwerpunkte auf die Entwicklung von Konzepten zur Beschreibung und Analyse pädagogischer Bedingungen vorschulischer und schulischer Lern- und Entwicklungsprozesse, und dies mit der Zielsetzung, »Lernbehinderungen« zu vermeiden, zu mindern oder zu überwinden. Dazu war eine grundlegende Veränderung der pädagogischen Arbeitsprinzipien in Kindergarten und Schule erforderlich. Diese Veränderungsprozesse und ihre Auswirkungen aufgrund konkreter pädagogischer Arbeit wurden in Fallstudien und Praxisberichten dokumentiert. Die darin beschriebenen pädagogischen Arbeitsprinzipien erfüllten schon damals wesentliche Kriterien, die heute an eine inklusive pädagogische Praxis gestellt werden, wurden jedoch, wie schon angemerkt, schwerpunktmäßig nur in Sonderschulen realisiert (siehe beispielsweise die Buchveröffentlichung von Kornmann & Ramisch, 1984).

Inklusive Ansätze
im integrationsfeindlichen Umfeld

Damit komme ich zurück zur ersten Frage, die ich nun so beantworten möchte: meine Heidelberger KollegInnen und ich sind in den 70er Jahren nicht zur integrativen Pädagogik gekommen, wohl aber realisierten wir wichtige inklusiv orientierte pädagogische Prinzipien – mussten uns dabei allerdings nur auf den institutionellen Rahmen von Sonderschulen beschränken, weil die Bildungspolitik in BW absolut integrationsfeindlich war und daher kein entsprechendes Betätigungsfeld im Rahmen der Regelpädagogik zuließ.

Verbesserung der Sonderschule und Abschaffung

Wir gingen also davon aus, dass unsere Bemühungen, die Lern- und Entwicklungsbedingungen von Kindern zu verbessern, auch im separierten und separierenden institutionellen Rahmen notwendig und sinnvoll seien, und so beantworteten wir die später eingehend diskutierte Frage »Ist die Forderung nach Verbesserung der Unterrichtsqualität in der Sonderschule für Lernbehinderte vereinbar mit dem Ziel, diese Institution abzuschaffen?« (Kornmann & Weiser, 1985) mit einem klaren Ja. Diese Diskussion hatte sich aus den guten kollegialen Kontakten zu Alfred Sander ergeben, der seit 1973 für einige Semester einen Lehrauftrag im Studiengang Lernbehindertenpädagogik in Heidelberg übernommen hatte.

Inspiration

Weitere wichtige Anregungen erhielt ich durch die Kontakte zu Bremer Kollegen, die den Gedanken der Integration/Inklusion voranbrachten, nämlich zu Wolfgang Jantzen und Wilhelm Reincke, die zur gleichen Zeit wie ich in Gießen studiert hatten bzw. promoviert wurden, und zu Georg Feuser, der damals ebenfalls in Gießen lebte und sein sonderpädagogisches Aufbaustudium in Marburg absolvierte, als ich dort den schon erwähnten Lehrauftrag wahrnahm.

Bildungspolitisches Engagement

In die Entwicklung meines fachlichen Selbstverständnisses sind also zunehmend Impulse eingeflossen, die meine bildungspolitische Abgrenzung von dem auf Auslese und Konkurrenz beruhenden Schulsystem unterstützten. Da Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zu den Verlierern im Bildungswesen zählten, galt ihnen meine solidarische Unterstützung. Eine solche Unterstützung beschränkte sich bei mir allerdings im Wesentlichen auf argumentativ begründete Forderungen nach einem auslesefreien Schulsystem.

Arbeit in einem
restriktiven bildungs­politischen Setting

Fragen der gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder waren aber schon seit Mitte der 70er Jahre ein Diskussionsthema im Fachbereich Sonderpädagogik der PH Heidelberg. Daraus ergaben sich jedoch zunächst keine direkt umsetzbaren Konsequenzen für Forschungsarbeiten, weil in BW – anders als in fast allen anderen Ländern der damaligen Bundesrepublik Deutschland – offiziell auf eine konsequent separierende Pädagogik im vorschulischen und schulischen Bereich gesetzt wurde und die bildungspolitisch Verantwortlichen im Verein mit den RepräsentantInnen des Sonderschulwesens scharf darauf wachten, dass möglichst alle Kinder mit zugeschriebenen Behinderungen möglichst frühzeitig und dauerhaft unter den totalen Einfluss sonderpädagogischer Institutionen gerieten. Diese äußerst restriktive bildungspolitische Einstellung des Landes BW zeigte sich auch in der reservierten Haltung gegenüber der damals aufkommenden Gesamtschulbewegung: Nur drei Gesamtschulen konnten schließlich im Lande durchgesetzt werden.

Vortragsreihe »Schritte zur
Integration«

Jedoch: Es regte sich an verschiedenen Stellen, durchweg unabhängig voneinander, Widerstand – so auch im Fachbereich Sonderpädagogik der PH Heidelberg. Zwei Kollegen, Armin Löwe (1922–2001, Hörgeschädigtenpädagogik) und Rudolf Schindele (1941–2007, Sehgeschädigtenpädagogik), hatten aufgrund vielfältiger nationaler und internationaler Kontakte reichlich Material für ihre programmatischen Abhandlungen zugunsten einer integrativen Pädagogik bekommen (Löwe, 1977; Schindele, 1977). Es dauerte aber noch bis zum Jahre 1985, bis Mitglieder des Fachbereichs Sonderpädagogik der PH Heidelberg in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Heidelberg eine öffentliche Vortragsreihe zum Thema »Schritte zur Integration« initiieren konnten. ReferentInnen waren vor allem praktisch und wissenschaftlich tätige Personen aus anderen Bundesländern, die über inhaltliche Konzepte und positive praktische Erfahrungen zur gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung behinderter Kinder und Jugendlicher berichteten.

Elterninitiative

Viele betroffene Eltern, die recht zwiespältige Erfahrungen mit der separierten Erziehung ihrer Kinder machen mussten, waren von den vorgestellten Konzepten sehr angetan und wollten sie auch für ihre Kinder im Heidelberger Raum verwirklicht wissen. Sie schlossen sich daher zunächst informell, später offiziell als Elterninitiative Rhein-Neckar »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen. Eltern gegen Aussonderung behinderter Kinder« zusammen, um institutionell abgesicherte Möglichkeiten und die notwendigen organisatorischen Voraussetzungen für ihr Anliegen – zunächst nur beschränkt auf den Kindergarten – durchzusetzen.

Integration
in der Kita

Dank des unermüdlichen Einsatzes dieser Eltern, den insbesondere meine Kollegen Wolf Rüdiger Wilms und Reinhart Markowetz und ich unterstützten, konnte schließlich erreicht werden, dass die Evangelische Kirchengemeinde in Heidelberg und das Diakonische Werk der Evangelischen Landeskirche in Baden zum 1. September 1987 einen ersten Kindergarten in Heidelberg auch für Kinder mit Beeinträchtigungen, die in seinem Einzugsbereich lebten, öffnete. Dies war der erste integrative Kindergarten in BW überhaupt. Nach guten Erfahrungen kam ein weiterer Kindergarten ein Jahr später hinzu. Die wissenschaftliche Begleitung hatte ich übernommen. Die personelle Ausstattung sowohl der beiden Kindergärten als auch die der wissenschaftlichen Begleitung waren gut. Gemeinsam mit allen MitarbeiterInnen wurde praxisbegleitend die pädagogische Konzeption erarbeitet. Diese Konzeption orientierte sich in wesentlichen Aspekten an den Erfahrungen, die schon seit einigen Jahren in den Evangelischen Kindertagesstätten in Bremen gewonnen und von Georg Feuser (z. B. Feuser & Wehrmann, 1985) veröffentlicht worden waren.

IFO-Tagung

Durch die Übernahme der wissenschaftlichen Begleitung erhielt ich einen Zugang zu den seit 1986 jährlich stattfindenden Arbeitstagungen bzw. Kolloquien der IntegrationsforscherInnen (inzwischen IFO-Tagungen) und durch die Zusammenarbeit mit der Elterninitiative ergaben sich für mich anregende Kontakte zu den auf Länder- und Bundesebene engagiert wirkenden Elternvertretungen, zum Beispiel zu Manfred Rosenberger, dem langjährigen Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft »Gemeinsam leben – gemeinsam lernen« und Herausgeber des Ratgeber gegen Aussonderung (Rosenberger, 1988).

Diagnostische Gutachten zur »Integrationsfähigkeit« im Bundesgebiet

Diese Kontakte führten auch dazu, dass ich in meiner Rolle oder Funktion als diagnostischer Experte mehrfach von Eltern aus anderen Bundesländern um eine gutachterliche Stellungnahme zu der Frage gebeten wurde, ob ein bestimmtes Kind mit einem bestimmten Handicap »integrationsfähig« sei. Da ich grundsätzlich und unbesehen jedes Kind für »integrationsfähig« halte, habe ich meine Gutachten auf die Klärung der Frage konzentriert, wie die pädagogische Praxis im jeweils konkreten Falle gestaltet werden muss, um den Lern- und Entwicklungsbedürfnissen der betreffenden Kinder gerecht zu werden, beispielsweise an welchen Stärken des Kindes anzusetzen sei. Mir kam es dabei primär auf Merkmale der konkreten Gestaltung pädagogischer Prozesse an, weniger auf Fragen der Ausstattung mit materiellen Ressourcen in personeller und sächlicher Hinsicht.

Welche eigenen Interessenschwerpunkte waren besonders relevant?

Untersuchung von Risikofaktoren zur Vermeidung von Ausschluss

Mein offizieller Aufgabenbereich war ja die Diagnostik. Die diagnostischen Fragestellungen, die ich als relevant für Forschung und Lehre ansah, betrafen pädagogische Situationen, in denen Lernende Probleme hatten, die in Kindergarten und Schule gestellten Anforderungen erwartungsgemäß zu erfüllen. In genau diesen Situationen besteht für sie das Risiko, von den gebotenen Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten ausgeschlossen zu werden. Im Bereich der Schule betrafen solche Anforderungen den Erwerb und Gebrauch der Schriftsprache, die Entwicklung mathematischer Kompetenzen, die Verwendung der Zweitsprache Deutsch (bei Kindern von MigrantInnen) sowie die Entwicklung eines dem schulischen Lernen angemessenen Lern-, Arbeits- und Sozialverhaltens. Diese Bereiche bildeten dann meine Interessenschwerpunkte, denen ich in verschiedenen Forschungsprojekten, zum Teil gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Traeger-Stiftung, nachgehen konnte.

Validierung theoretischer Arbeiten durch praktische Umsetzung

Gemeinsam mit Studierenden arbeitete ich, unterstützt von meinem Kollegen Wolf Rüdiger Wilms, im Rahmen von Lehrveranstaltungen an pädagogischen Fragestellungen, aus deren Klärung sich Hinweise auf praktische Hilfen zur Entwicklungsförderung der betroffenen Kinder ergeben sollten. Wichtig war mir, dass diese praktischen Hilfen auch umgesetzt und somit validiert wurden (im Sinne einer Handlungsvalidierung). Hieraus ergaben sich wiederum neue Erkenntnisse über Bedingungen der Wirksamkeit der Interventionen.

Welche MitstreiterInnen waren besonders wichtig?

Für mein bildungspolitisches Engagement war mir die Kooperation mit zwei Personenkreisen besonders wichtig:

Lokale
Kooperationen

Zum einen Menschen in und um Heidelberg (beispielsweise diejenigen, die sich in der schon erwähnten Elterninitiative zusammengeschlossen hatten, VertreterInnen der evangelischen Kirchgemeinde und des Diakonischen Werkes, der Leiter der Volkshochschule sowie die schon erwähnten Kollegen der Pädagogischen Hochschule Heidelberg), zum anderen Menschen in Baden-Württemberg, die sich ebenfalls für die Zielsetzung eines Schulsystems ohne Separation engagierten (vor allem kämpferische Eltern, ebenso Petra und Manfred Weiser als Initiatoren der Enquête-Kommission zur schulischen Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in Baden-Württemberg und Herausgeber des 1991 veröffentlichten Enquête-Berichts Eine Schule für Alle, dann auch Carsten Kunkel und Norbert Baur als Vorsitzende der Fachgruppe Sonderpädagogik in der GEW Baden-Württemberg, weiterhin die schon erwähnten Kolleginnen und Kollegen der PH Reutlingen).

»Italienische Seuche«

Wichtig war für mich auch das Erleben der solidarischen Haltung von Eduard W. Kleber und Alfred Sander. In seiner Eröffnungsrede auf dem im Jahre 1981 veranstalteten Bundeskongress des Verbandes Deutscher Sonderschulen meinte der damalige erste Vorsitzende des Verbandes, Bruno Prändl, die von Italien ausgehende Integrationsbewegung als »italienische Seuche« bezeichnen zu müssen, die hier »nicht grassieren« werde. Dieser Aussage sind wir in einem offenen Brief entgegengetreten (Kleber et al., 1981). Bruno Prändl war übrigens zugleich als Ministerialrat im Kultusministerium von BW für die Sonderschulen zuständig. Die beschriebene Aktion wirft ein bezeichnendes Licht auf die Schwierigkeiten in BW, ausgehend von der Sonderpädagogik, einer Pädagogik ohne Auslese, Geltung zu verschaffen. Seitens der Grundschulpädagogik sah es damals in BW nicht günstiger aus. Allerdings bemühte sich eine an der PH Heidelberg lehrende Professorin für Grundschulpädagogik, Hildegard Kasper (1929–2016), ihren Studierenden Grundgedanken und Methoden einer Pädagogik ohne Auslese über Konzepte Offenen Unterrichts nahezubringen. Mit ihr habe ich auch einige Seminare gemeinsam angeboten. Dadurch erweiterte sich mein Verständnis für tragfähige didaktische Konzepte für eine Schule ohne Aussonderung. Dieser Hinweis leitet nun schon über zu den wichtigen Einflüssen auf meine fachliche Entwicklung.

Gedankliche
Mitstreiter

Hierbei konnte ich insbesondere von den Impulsen meines Doktorvaters Karl-Herrmann Wewetzer (1928–1978) und meines didaktischen Lehrmeisters am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg, Walter Jeziorsky (1903–1992), zehren. Mit zunehmendem Alter wird mir immer deutlicher, welche wichtigen Wirkungen sie auf mich als diagnostisch und didaktisch arbeitenden Hochschullehrer ausübten. Ich denke, dass ich oft weitgehend in ihrem Sinne denke und arbeite und daher möchte ich sie als wichtige »gedankliche Mitstreiter« erwähnen, obwohl ich ja nicht direkt mit ihnen zusammengearbeitet habe.

Diagnostisch
orientierte Tagungen

Von großer Bedeutung waren für mich regelmäßige Zusammenkünfte mit Fachkollegen von anderen Hochschulen – so die Arbeitstagungen empirischer sonderpädagogischer Forschung (AESF) und der »Norddeutschen Diagnostiker« (»Nordlichter-Tagungen«), bei denen häufig Probleme und Lösungsmöglichkeiten thematisiert wurden, die mit einer integrativen Pädagogik zusammenhingen.

An den »Nordlichter-Tagungen« nahmen Kolleginnen und Kollegen norddeutscher Hochschulen, vorwiegend mit sonderpädagogischen und psychologischen Arbeitsschwerpunkten teil, so Dietrich Eggert, Joachim Kutscher, Jens Holger Lorenz, Ursula Pix-Kettner (1948–2013), Wilhelm Reincke, Jörg Schlee. Als gebürtiger Norddeutscher wurde ich zu diesen Tagungen kooptiert. Die Teilnehmenden konnten Themen (eigene Ideen, Forschungsergebnisse, geplante Projekte) zur Diskussion stellen und so einen Beitrag zur gemeinsam getragenen fachlichen Entwicklung leisten. Es kam auch zu einer relativ heftig geführten Kontroverse zwischen Jörg Schlee und mir zur Sinnhaftigkeit der Förderdiagnostik, die sich auch in unseren Publikationen niedergeschlagen hat und im Rahmen einer informativen Schrift zur Diagnostik bei Lernbehinderten von Langfeldt & Kurth (1993) dokumentiert ist. Durch diesen sich längere Zeit hinziehenden Streit wurde ich angeregt, meine eigene Position immer wieder neu zu überdenken.

Diskussion von Forschung von Anfang an

Zum Selbstverständnis der halbjährlich stattfindenden Tagungen der AESF gehört es von Anfang an, dass Forschungsvorhaben, schon beginnend mit den Planungsphasen, vorgestellt und unter methodischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Bei Bedarf können dann auch die Versuchspläne revidiert und verbessert werden, sodass sich methodisch einwandfreie Ergebnisse erzielen lassen. Bei längsschnittlich angelegten Untersuchungen bieten sich dann auch Berichte und Diskussionen über Zwischenergebnisse an.

Empirische Arbeiten

Auf diese Weise konnte ich die Entstehung zweier bildungspolitisch wichtiger empirischer Arbeiten mitverfolgen (und vielleicht auch ein wenig mitbeeinflussen). Vorauszuschicken ist, dass damals, zu Mitte der 80er Jahre, großer Wert auf empirische Belege des Erfolgs integriert arbeitender Schulen gelegt wurde und entsprechende Forschungsarbeiten große Resonanz fanden. Dies betraf auch die häufig zitierte Untersuchung von Tent, Witt, Zschoche-Lieberum & Bürger (1991) und die große Schweizerische Längsschnitt-Studie von Haeberlin, Bless, Moser & Klaghofer (1990). Interessant und wichtig war für mich bei den Zusammenkünften der AESF der konstruktive, problembezogene Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, hingegen konnte ich den Fragestellungen der Untersuchungen selbst nur selten weitreichende Bedeutungen abgewinnen: Wären nämlich andere als die erwarteten positiven Ergebnisse (pro Integration) erzielt worden, dann hätte man dies zum Anlass nehmen müssen, die pädagogische Arbeit in den Regelschulen zu verbessern und entsprechende Forschungsarbeiten zu initiieren.

Gegen Ende meiner Dienstzeit an der PH Heidelberg hatte ich noch das Glück, das Entstehen der von Alfred Sander und mir betreuten Dissertation von Irmtraud Schnell zur Geschichte schulischer Integration in langen Arbeitsphasen mitzuerleben (Schnell, 2003).

Welche Bezüge gab es zur Praxis?

Betreuung von Studierenden in Praktika

Auf zwei konstante Bezüge zur Praxis habe ich schon hingewiesen: die schulpraktische Betreuung der Studierenden im Rahmen der wöchentlich stattfindenden Semesterpraktika und die Betreuung von Studierenden bei der Erstellung von Förderplänen für Kinder mit Lern- und Entwicklungsstörungen. Beide Arbeitsschwerpunkte hatten, formal betrachtet, in vielen Fällen nichts mit Inklusion oder Integration zu tun, weil sie in den organisatorischen Rahmen von Sonderschulen eingebunden waren. Gleichwohl zielten die Bemühungen darauf ab, solchen Zuständen und Situationen wirksam zu begegnen, in denen sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen ausgegrenzt, diskriminiert und in ihrer Entwicklung behindert fühlen mussten.

Ablehnung von Schulversuchen

Offizielle Bezüge der wissenschaftlich tätigen Fachleute zur Praxis integrativer oder inklusiver Pädagogik gab es in BW für lange Zeit nur im vorschulischen Bereich. Im schulischen Bereich waren in BW aufgrund der schon erwähnten restriktiven bildungspolitischen Haltung zugunsten der Sonderpädagogik lange Zeit keine integrativen oder inklusiven Vorhaben oder Versuche erlaubt worden.

Integrative Schulentwicklungsprojekte

Dies änderte sich in BW erst im Jahre 1998 mit der Einrichtung der Integrativen Schulentwicklungsprojekte (ISEP), die von den Kollegen der PH Reutlingen wissenschaftlich begleitet wurden (Zur Information, angelehnt an Wikipedia: Diese Projekte wurden auf Initiative der Schulen selbst eingerichtet, wenn das zuständige Schulamt diese genehmigte und die personellen Ressourcen vorhanden waren. Grundlage war ein 1994 explizit in die Landesverfassung aufgenommenes Diskriminierungsverbot sowie ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1997, das die Schulen zur integrativen Erziehung verpflichtete. Aufgrund einer Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes im Jahr 1997 fand die Möglichkeit, Kinder mit Förderungsbedarf an allgemeinen Schulen unterrichten zu können, einen rechtlichen Rahmen.). Diese neuere Entwicklung im schulischen Bereich habe ich jedoch nur aus der Distanz im Rahmen von Hospitationen verfolgen können, fand dabei aber einige sehr beeindruckende Beispiele gelungener Inklusion.

Integration
in der Kita

Ab Herbst 1988 beteiligte ich mich im Auftrag des Fachbereichs Sonderpädagogik der PH Heidelberg zusammen mit meinen Kollegen Wolf Rüdiger Wilms und Reinhard Markowetz an der Planung und wissenschaftlichen Begleitung eines Modellversuchs der Stadt Weinheim zur Integration behinderter Kinder in einen Regelkindergarten, wobei wir die Erfahrungen aus dem vorangegangenen Projekt aus dem Kindergarten nutzen konnten.

Seither bin ich an verschiedenen praxisbezogenen Projekten zur Inklusion beteiligt, über die ich in letzter Zeit informiert habe (Kornmann, 2013, 2015).

Was waren aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen (persönlich und für das Feld)?

Abkehr von der Testdiagnostik

Sicherlich bedeutete die schon beschriebene konzeptionelle Umorientierung der Diagnostik eine besondere Herausforderung für mich. Sie betraf insbesondere die inhaltliche Gestaltung der Lehre. Dafür musste ich eine Reihe von Überzeugungen, die ich im Psychologiestudium gewonnen hatte, aufgeben oder zumindest stark relativieren. In ähnlicher Weise war es für mich nicht ganz leicht, das erworbene Fachwissen, das mich als testpsychologischen Experten auswies und mir ein spezielles professionelles Profil gab, kritisch zu hinterfragen, dazu eine Gegenposition zu beziehen und diese theoretisch überzeugend zu begründen. Einige KollegInnen haben diese Distanzierung von den wissenschaftlichen Standards, mit denen sie sich selbst voll identifizieren, nicht verstehen können und mir meine »Abtrünnigkeit« nicht verziehen.

Welche Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte sollten nicht in Vergessenheit geraten?

Dynamisches Testen

Im Bereich meines Fachgebiets, der Diagnostik, fällt mir auf, dass das »Dynamische Testen« (auch als »Lernfähigkeitsdiagnostik«, »Testing the Limits« und zum Teil auch als »Diagnostik ex juvantibus« bezeichnet) nach dem Ende der DDR und nach dem Tode von Jürgen Guthke (1938–2004) nur noch selten aufgegriffen und weiterentwickelt wird. Ich schätze diesen Ansatz gerade für Fragestellungen der integrativen pädagogischen Praxis als sehr ergiebig und vielversprechend ein, weil er die individuellen Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten in den Fokus rückt und damit Etikettierungen vermeidet. Es besteht die Gefahr, dass er deswegen in Vergessenheit gerät, weil er theoretisch anspruchsvoller ist als der einfach anwendbare RTI-Ansatz (Response to Intervention), der zurzeit als technische Hilfe für Aufgaben der integrativen Pädagogik propagiert wird.

Verblassen pädagogischer Konzepte

Im Zuge des »Roll Back« der psychometrischen Testdiagnostik besteht die Gefahr, dass diese Verfahren, die den pädagogischen Blick erheblich einengen, künftig auch bevorzugt für Fragestellungen der integrativen pädagogischen Praxis verwendet werden. Dadurch könnten auch die Ansätze einer verstehenden und biografisch ausgerichteten Diagnostik, die im Zuge der Entwicklung und Erprobung integrativer pädagogischer Konzepte bekannt geworden sind, wieder in Vergessenheit geraten. So wird beispielsweise das wichtige von Hans Eberwein und Sabine Knauer (1998) herausgegebene Handbuch Lernprozesse verstehen nach meiner Wahrnehmung heute kaum noch zur Kenntnis genommen.

Was waren die wichtigsten Erkenntnisse (eigene und anderer)?

Erhaltung des selektiven Schulsystems durch SelektionsgewinnerInnen

Besonders wichtig finde ich die Erkenntnis, dass die Verwirklichung einer inklusiven pädagogischen Praxis im deutschen Schulsystem durch die administrativ vorgegebenen selektiven Strukturen und Mechanismen (Ziffernnoten, Repetitionen, Abschulungen) erheblich erschwert wird. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass sich viele Lehrkräfte, SchulaufsichtsbeamtInnen und BildungspolitikerInnen aufgrund ihrer eigenen Bildungsbiografie mit eben diesen selektiv wirkenden Bedingungen identifizieren und ihnen keinen Widerstand entgegensetzen, verdanken sie doch ihre relativ gute und gesicherte gesellschaftliche Position gerade der Tatsache, dass sie zu den GewinnerInnen der selektiv wirkenden Spielregeln zählen.

Noten als
Inklusionshemmnis

In einem Schulsystem mit Noten und Sitzenbleiben kann sich meines Erachtens eine inklusive pädagogische Praxis nicht entfalten. Daher erfordert das Eintreten für Inklusion eigentlich zwingend die Bereitschaft zu widerständigem Denken und Handeln – etwa im Sinn der Bildungstheorie von Heinz-Joachim Heydorn; sie ist aber auch schon angelegt in dem Buch Ungehorsam im Schuldienst von Reinhard Stähling & Barbara Wenders (2011). Dies ist für mich die mit Abstand wichtigste Erkenntnis, die für die Entwicklung einer integrativen Pädagogik erforderlich ist.

Offenheit der Inklusionsentwicklung

In diesem Zusammenhang steht eine weitere Erkenntnis, die ich für wichtig halte: Pädagogisch ist Inklusion als ein prozessuales Geschehen zu verstehen, das offen für Entwicklungen ist. Solche Entwicklungen sind daher nicht über eindeutig festgelegte, vorab genau definierte Zielkriterien anzustreben. Hingegen ist es praktikabel und pädagogisch sinnvoll, sich zu verdeutlichen, was nicht unter Inklusion zu verstehen ist und was dem Gedanken der Inklusion widerspricht. Konkrete Merkmale von Situationen, in denen bestimmte Menschen ausgeschlossen, diskriminiert, isoliert, diffamiert und in ihrer Entwicklung behindert werden, sind oft sehr klar zu erkennen und dann auch zu ändern.

Formale und
inhaltliche Ebene von Inklusion

Wichtig finde ich weiterhin, dass im inklusionspädagogischen Diskurs darauf geachtet wird, zwei Ebenen der Argumentation zu unterscheiden: zum einen eine formale und zum anderen eine inhaltliche Ebene. Die formale Ebene betrifft Fragen und Probleme, welche an organisatorischen, technischen, personellen oder institutionellen Rahmenbedingungen und administrativen Regelungen festgemacht werden. Dagegen betrifft die inhaltliche Ebene die Qualität der pädagogischen Prozesse, wie sie sich etwa bei der Umsetzung inklusiver Ideen im direkten pädagogischen Geschehen beobachten und beschreiben lässt. Ich halte es für wichtig, darauf hinzuwirken, dass die inhaltliche Ebene an Bedeutung gewinnt und nicht – wie es mir oft der Fall zu sein scheint – von der formalen Ebene dominiert wird.

Welche Arbeiten zu den theoretischen Grundlagen erachten Sie für besonders wichtig?

Entwicklungs­theoretische Arbeiten

Ich halte solche theoretischen Arbeiten für besonders wichtig, die eine konsequente Gegenposition beziehen zu allen aussondernden Ideologien, Strukturen, Mechanismen und Praktiken in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Aus dem Bereich der Pädagogik möchte ich die Arbeiten hervorheben, die dem bildungstheoretisch begründeten Gedanken der Widerständigkeit gegen einengende, begrenzende, isolierende und behindernde Lern- und Lebensbedingungen verpflichtet sind. Im Sinne dieser Zielsetzungen halte ich die Arbeiten von Georg Feuser und Wolfgang Jantzen für bedeutsam. Beide vertreten eine pädagogisch tragfähige Entwicklungstheorie, die auf den Erkenntnissen der von Wygotski begründeten Kulturhistorischen Schule aufbaut. Dieser tätigkeitstheoretische Ansatz bietet mir die wichtigsten Orientierungen für eine pädagogische Arbeit, die auf Erweiterung der Möglichkeiten menschlichen Erlebens, Denkens und Handelns ausgerichtet ist – und dies im Sinne humanerer Maßstäbe für die Zielsetzungen von Bildung und Erziehung.

Welche empirischen Forschungen erachten Sie für besonders wichtig.

Untersuchungen
von Praxisgestaltung

Wichtig finde ich alle Arbeiten, die die pädagogisch orientierte Praxisgestaltung untersuchen und dabei die pädagogisch beeinflussbaren Bedingungen von menschlicher Entwicklung herausarbeiten. Ein gutes Beispiel dafür ist für mich die Arbeit Sozialpsychologische Grundlagen des schulischen Zweitspracherwerbs bei MigrantenschülerInnen von Romano Müller (1997). Müller hat zeigen können, dass solche Kinder besonders gute Fortschritte beim Zweitsprachenerwerb erzielen, deren Lehrkräfte bereit und in der Lage sind, auf sprachliche Fortschritte im Unterrichtsgeschehen zu achten und diese Beobachtungen an die Kinder zurückzumelden.

Biografisch orientierte Fallstudien

Wichtig finde ich auch solche Forschungsansätze, bei denen auf der Grundlage von biografisch orientierten Fallstudien in Verbindung mit pädagogischen Interventionen die Bedingungen erfolgreicher oder verhinderter Entwicklungsprozesse dokumentiert und analysiert werden. Zu dieser Thematik sind drei von mir betreute Dissertationen entstanden, von denen zwei in Buchform veröffentlicht worden sind (Götz-Hege, J. [2000]. Zur Wiederentdeckung des Subjekts in der Pädagogik. Neue Wege der heilpädagogischen Betreuung lern- und entwicklungsbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher. Frankfurt a. M.: Lang. Hoffmann, I. [2006]. »Gute« Jungs kommen an die Macht, »böse« in die Sonderschule. Bedingungen der Entstehung und Verstärkung von Lernproblemen und Verhaltensauffälligkeiten männlicher Kinder und Jugendlicher. Saarbrücken: Conte.). Auch kleinere interventionsbezogene praktische Einzelfallstudien, die im Rahmen der Hochschullehre durchgeführt, dabei theoretisch begründet und reflektiert werden und somit zur Verbreitung pädagogischen Handlungswissens beitragen, halte ich für wichtig und erwähnenswert: Dietrich, I. & Selke, S. (2007). Begleiten statt Ausgrenzen. Lernbegleitung von russlanddeutschen Spätaussiedler-Jugendlichen an Hauptschulen sowie Bernhardt, R., Rinck-Muhler, S. & Schroeder, J. (2014). Fördern will gelernt sein. Pädagogische Praxisprojekte – ein innovatives Element universitärer Ausbildung. Zurzeit arbeite ich mit Unterstützung der Max-Traeger-Stiftung daran, besonders lehrreiche förderungsdiagnostische Fallstudien, die Studierende unter meiner Anleitung als Studienleistung erstellt haben, für eine Publikation aufzuarbeiten.

Was waren aus Ihrer Sicht die interessantesten Streitpunkte innerhalb der Community?

Gemeinsamer Gegenstand

Als einen echten Streitpunkt habe ich eigentlich nur die Frage nach dem »gemeinsamen Gegenstand« wahrgenommen, die immer mal wieder »aufgetischt« wird und sich gegen die entsprechende Definition von Integration richtet, die Georg Feuser in die Diskussion gebracht hat. Nach meiner Einschätzung spiegelt sich in dieser Kontroverse der Gegensatz wider, den ich zuvor schon – bei den mir wichtigsten Erkenntnissen – versucht habe darzustellen: Feuser versteht den »gemeinsamen Gegenstand« theoretisch und inhaltlich, nämlich als einen Auftrag an uns Alle, unser Menschsein gemeinsam miteinander, als Menschen in der Menschheit, weiterzuentwickeln. Diejenigen, die dieser gedankenschweren, theoretisch satten und reichlich abstrakten Definition nicht folgen können oder wollen, beziehen dagegen ihre Position auf der gut operationalisierbaren, formalen Ebene der »gemeinsamen Situationen«, was meines Erachtens nicht ausreicht; gemeinsame Situationen bedürfen der inhaltlichen Ausgestaltung oder einer inhaltlichen Bestimmung, die theoretisch zu begründen wäre.

Kampf gegen
unwürdige Lebensbedingungen

Gern möchte ich an dieser Stelle ein Problem ansprechen, das als solches wohl noch nicht in das allgemeine Bewusstsein der Community gedrungen ist: In vielen Veröffentlichungen werden gute und pädagogisch wichtige Argumente dafür vorgebracht, Vielfalt, Diversität oder Heterogenität nicht nur zu respektieren, sondern auch als wertvolle humane Ressource zu nutzen und deswegen auch zu kultivieren. Bei diesen Argumenten wird aber bisweilen die Tatsache vernachlässigt, dass ein bestimmter »Varianzanteil« von menschlicher Vielfalt auf Einflüsse behindernder, teilweise sogar menschenunwürdiger Lern- und Lebensbedingungen in der Gesellschaft zurückzuführen ist. Der Kampf gegen solche Lebensbedingungen gehört meines Erachtens selbstverständlich auch zum Aufgabenbereich der Forschungen für Integration/Inklusion, auch wenn dadurch Vielfalt reduziert wird. Vielfalt ist also nicht als quasi sakrosankter Zustand zu bewahren, sondern immer nur vor dem Hintergrund jeweils realisierbarer Entwicklungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der sozialpolitischen Gegebenheiten einzuschätzen

Welche Bezüge zu den anderen Teildisziplinen der Pädagogik (aber auch Gender/Disability Studies) sehen Sie? Welche Probleme sehen Sie? Wie kann man sie verstärken?

Bildungstheorie

Für mich ist der Bezug zur Bildungstheorie (als Teildisziplin der Allgemeinen Pädagogik), wie oben schon angedeutet, sehr wichtig geworden. Aufgrund sehr eng geführter Aus-, Fort- und Weiterbildung bleiben vielen PädagogInnen die Zugänge zu umfassender und gründlicher Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Fragen verschlossen. Ich fand es daher ganz wichtig, dass bei einer der letzten IFO-Tagungen Andreas Gruschka sprechen konnte, und er hat ja auch gute Resonanz gefunden. Ich denke, es ist ein guter Weg, solche Kontakte zu bildungstheoretisch ausgewiesenen Kollegen zu knüpfen und zu halten.

Interkulturelle
Pädagogik

Eine andere wichtige Teildisziplin ist die Interkulturelle/Transkulturelle Pädagogik. Hier besteht das vordringlich zu lösende Problem, dass Kinder von MigrantInnen besonders häufig im Bildungssystem benachteiligt und separiert werden – und dies selbst im Rahmen inklusiver Pädagogik! Dies hat Kerstin Merz-Atalik in ihrer von Jutta Schöler und mir betreuten Dissertation eindrucksvoll gezeigt: »Interkulturelle Pädagogik in Integrationsklassen. Subjektive Theorien von Lehrern im Gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen« (Opladen, 2001). Grundsätzliche Lösungen für dieses Problem bieten auch hier der Verzicht auf separierende Strukturen und Mechanismen in Verbindung mit geeigneten unterrichtspraktischen Ansätzen, wie sie beispielsweise der schon erwähnte Romano Müller verfolgt.

Welche zukünftigen Aufgaben/Herausforderungen sehen Sie für die Praxis? Welche zukünftigen Aufgaben/Herausforderungen sehen Sie für die Forschung?

Diese beiden Fragen möchte ich nicht getrennt voneinander beantworten.

Dokumentation gelungener Beispiele von Inklusion

Ich halte es für ganz wichtig, Beispiele gelungener Inklusion zu dokumentieren und zu analysieren, um sie dann wieder für die Aus-, Fort- und Weiterbildung zu verwenden. Mit diesem Ansatz habe ich kürzlich begonnen (Kornmann, 2015). Den erkenntnistheoretischen Wert und die methodologischen Grundlagen eines solchen Ansatzes habe ich ebenfalls versucht zu skizzieren (Kornmann, 2013). Der von mir bevorzugte Ansatz findet sich in ähnlicher Form auch bei Gordon Porter (2011): Exploring Inclusive Educational Practices through Professional Inquiry.

Literatur

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